- Holzschnitt und Kupferstich: Die Anfänge der Grafik
- Holzschnitt und Kupferstich: Die Anfänge der GrafikUnter dem Begriff »Grafik« fasst man alle Techniken der Zeichnung und alle Verfahren, diese zu vervielfältigen, zusammen. Im Gegensatz zur Zeichnung sind aber der Holzschnitt und der Kupferstich, die im frühen 15. Jahrhundert nördlich der Alpen entstanden, eine verhältnismäßig junge künstlerische Disziplin. Gemeinsam ist diesen beiden druckgrafischen Gattungen, dass sie im Umkehrverfahren hergestellt werden: Der Künstler muss also für die Komposition grundsätzlich bedenken, dass das Links und das Rechts der Zeichnungsvorlage im Abdruck seitenverkehrt erscheinen.Die kulturgeschichtlichen Grundlagen für die Entstehung der grafischen Techniken bildeten das Aufblühen der Städte und das gestiegene wirtschaftliche und politische Selbstbewusstsein des Bürgertums. Schon im 13. Jahrhundert waren stadteigene Stadt- oder Ratsschulen entstanden, seit dem 14. Jahrhundert Schreib- und Leseschulen; die erste gesetzliche Schulpflicht wurde aber erst 1598 in Straßburg eingeführt. Das Streben nach »Bildung«, das im Mittelalter noch auf einen kleinen Kreis kirchlicher und privilegierter, meist dem Adel angehörender Personen beschränkt gewesen war, ergriff nun breitere Schichten. In diesem Zusammenhang wuchs auch der Wunsch nach dem Besitz nicht nur von Büchern, sondern auch von Kunstwerken, zumal durch die mittelalterliche Bewegung der Mystik eine verstärkte Nachfrage nach kleinformatigen Bildern für die private Andacht geweckt worden war. Da in der Technik des Holzschnitts über 1000 Abdrucke hergestellt werden konnten, wurde der Erwerb eines Blattes - im Gegensatz zum kostspieligen Tafelbild - auch für größere Gruppen des Bürgertums möglich. So kann man schon im frühen 15. Jahrhundert den Handel mit losen Blättern nachweisen, die die Künstler ohne Auftrag auf Vorrat für den freien Markt herstellten.Den zeitlichen Vorrang in den vervielfältigenden Techniken hatte der Holzschnitt, der in enger Verbindung mit dem Buchdruck entstand, bei dem ursprünglich die Lettern aus einer Holzplatte herausgeschnitten wurden. Beim Holzschnitt tieft der Holzschneider alle Teile, die auf dem Abdruck weiß bleiben sollen, in die Holzplatte, den »Holzstock«, ein; dadurch bleiben nur die Linien und Flächen der Zeichnung als Stege erhaben stehen. Sie werden mit Farbe, vornehmlich mit Tinte, eingefärbt und dann auf Papier abgedruckt. Es handelt sich also um ein Hochdruckverfahren. Die Blätter können nachträglich handkoloriert werden.Die frühen Holzschnitte dienten anfänglich oft der Illustration von Büchern, den Blockbüchern, und ersetzten hier allmählich die Miniaturen der mittelalterlichen Handschriften. Besonders verbreitet war die »Biblia pauperum«, die »Armenbibel«, die Themen aus dem Leben Christi alttestamentlichen Geschehnissen gegenüberstellte, die auf das Neue Testament vorausweisen. Die älteste nachweisbare »Armenbibel« erschien um 1430 in Haarlem. In den Blockbüchern wurden Texte und Abbildungen meist auf einer Seite miteinander verbunden. Daneben finden sich seit etwa 1400 auch einzelne Blätter, die Einblattholzschnitte, die überwiegend Heiligenfiguren darstellen; frühe Beispiele sind eine vermutlich schon um 1400 in Südwestdeutschland entstandene Heilige Dorothea und der Heilige Christophorus aus Kloster Buxheim(1423). Kennzeichnend für die Holzschnitte der Frühzeit sind breite Umrisse und zuweilen undurchbrochene schwarze Flächen.Eine Verfeinerung der grafischen Techniken bedeutete der etwa eine Generation später entstandene Kupferstich, dessen Vorstufen vermutlich im Goldschmiedehandwerk lagen. Im Gegensatz zum Holzschnitt handelt es sich hier um ein Tiefdruckverfahren: Die Zeichnung wird mit einem Stichel, einem an der Spitze meist schräg geschliffenen Stahl, in eine in der Regel kupferne Metallplatte eingraviert. Die Gravuren werden mit Farbe gefüllt, sodass im Unterschied zum Holzschnitt die eingetieften Elemente der Platte im Druck erscheinen. Künstlerisch bot der Kupferstich die Möglichkeit zu größerer Feinheit der Zeichnung, zur Bereicherung des Details, zu Abtönungen durch unterschiedliche Farbstärke. Zudem konnten durch Schraffuren Schattenwirkungen erreicht werden. In der Praxis ließ sich von der Kupferplatte eine noch größere Zahl von Abdrucken erzielen als vom weicheren Holzstock. Die ältesten bekannten Beispiele von Kupferstichen liefert eine Serie von Passionsdarstellungen, die ein auf 1446 datiertes Blatt enthält.Aufgrund der reicheren künstlerischen Ausdrucksformen entfaltete sich die Technik des Kupferstichs seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vielfältiger als der Holzschnitt. Unter den namentlich zunächst nicht greifbaren Künstlern steht zeitlich der »Spielkartenmeister« an erster Stelle, der wahrscheinlich aus der oberrheinischen Gegend oder der Schweiz stammte und zwischen etwa 1430 und 1450 tätig war. Seinen Notnamen erhielt er nach 13 Stichen eines Kartenspiels, auf denen Vögel, Menschen, Hirsche und Raubtiere dargestellt sind. Die minutiöse Ausgestaltung der Details lässt auf seine Schulung als Goldschmied schließen. Etwa gleichzeitig arbeitete der »Eligius-Meister«, benannt nach einem gegen 1460 entstandenen Kupferstich, der den Heiligen Eligius, den Schutzpatron der Goldschmiede, in seiner Werkstatt zeigt. Dieses Blatt ist insofern von besonderem Interesse, als man in ihm eine Art von Selbstdarstellung der Kupferstichproduktion sehen darf.Einen wesentlichen Fortschritt sowohl in künstlerischer als auch in technischer Hinsicht bedeutete dann das Werk des nach seinem Monogramm als Meister E.S benannten Künstlers, der am Oberrhein, vermutlich in Straßburg, tätig war. Der größte Teil seiner erhaltenen Stiche dürfte in den 1460er-Jahren entstanden sein. Meister E.S benutzte als Erster die Kaltnadeltechnik: Mit einer spitzen, schneidenden Nadel werden die Linien dergestalt in die Kupferplatte eingekratzt, dass neben den Eintiefungen kleine, etwas unregelmäßige Grate entstehen, die der Zeichnung malerische Wirkungen verleihen. Das ikonographisch ungewöhnlich vielgestaltige Werk des Meisters E.S umfasst neben zwei Kartenspielen und einem durch hohe ornamentale Fantasie gekennzeichneten, aus Menschen und Tieren gebildeten Alphabet eine Fülle religiöser Darstellungen. Seine Entwicklung führte von vergleichsweise schlichten Kompositionen zu ständig sich bereichernden Abtönungen, zu gesteigertem Pathos des Ausdrucks und zur Einbeziehung der Landschaft. Von Meister E.S. weist der Weg unmittelbar zu Martin Schongauer.Der Kaltnadeltechnik bediente sich auch der nach dem auf Schloss Wolfegg aufbewahrten »Mittelalterliche Hausbuch« benannte »Hausbuchmeister«. Neben technischen Darstellungen - Hochöfen, Räderwerken, Blasebälgen, Pulvermühlen oder Kriegsgeräten - finden sich in seinem Werk Minneszenen, eine Jagdgesellschaft oder allegorische Darstellungen der sieben Planeten. Aufgrund stilistischer Beziehungen wurden diesem Meister, der vermutlich von etwa 1470 bis nach 1500 am Mittelrhein arbeitete, auch eine Reihe von Tafelbildern und rund 90 Kupferstiche zugeschrieben. In denselben zeitlichen Umkreis gehört der am Niederrhein tätige Israhel van Meckenem der Jüngere, der mehr als 500 Kupferstiche hinterließ, als er 1503 in Bocholt starb.Italien nahm erst im späten 15. Jahrhundert die grafischen Techniken auf. Der Holzschnitt fand dort besonders in Venedig bei den Buchdruckern Verwendung, etwa bei dem von Aldus Manutius 1499 herausgegebenen Roman »Hypnerotomachi Polifili« von Francesco Colonna. Den Kupferstich - und zwar sogleich in hoher technischer Perfektion - führten um 1470 Antonio del Pollaiuolo in Florenz und in Oberitalien vor allem Andrea Mantegna ein. Dadurch eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten des Formenaustausches zwischen dem Norden und dem Süden Europas, die während der Hochrenaissance größte Bedeutung erlangten.So reizten zum Beispiel Mantegnas mythologische Blätter Albrecht Dürer zur Nachahmung. Mit seinen Holzschnittfolgen »Apokalypse« (1498), »Große Passion« (1498-1510) und »Marienleben« (1501-11) sowie den drei Meisterstichen »Ritter, Tod und Teufel« (1513), »Der heilige Hieronymus im Gehäus« (1514) und »Melencolia I« (1514) führte Dürer die druckgrafischen Techniken in Deutschland zu höchster Vollendung. Seine weit verbreiteten Grafiken, mit denen Dürer ein außergewöhnliches Vermögen erwarb, dienten wiederum in unzähligen Fällen als Vorlagen auch für die Malerei; sie genossen Wertschätzung selbst in Italien oder den Niederlanden, wo etwa der bedeutende Grafiker Lucas van Leyden Dürer 1521 in Antwerpen begegnete.Holzschnitt und Kupferstich stehen darüber hinaus an der Schwelle zur Entwicklung der neuzeitlichen Massenmedien. So trugen illustrierte Flugschriften maßgeblich zum Erfolg der Reformation bei, deren Erscheinungsbild entscheidend durch die Holzschnitte zur Bibel und die Porträts Martin Luthers geprägt wurde, die Lucas Cranach der Ältere schuf. In der Folgezeit traten beide Verfahren aber hinter andere grafische Techniken, etwa die Radierung, zurück. Einen gewissen Stellenwert behielten sie als Reproduktionsgrafiken, mit denen etwa Marcantonio Raimondi die Kompositionen Dürers und Raffaels verbreitete oder die »Rubensstecher« die Gemälde des Antwerpener Meisters wiedergaben.Prof. Dr. Manfred Wundram
Universal-Lexikon. 2012.